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»Mira, hör gut zu. Ich kann Pavel nicht
finden!«
Nordeschenkos Herz raste. Der Schachlehrer hatte gesagt,
Pavel sei nicht zum Unterricht erschienen. Das sei schon
mehrmals passiert, aber immer nur, wenn Nordeschenko
geschäftlich unterwegs gewesen war. Er durchkämmte die
Straßen rund um die Akademie, kontrollierte alle
Eisdielen,
Bäckereien und Pavels Lieblingsplätze. Niemand hatte den
Jungen gesehen.
»Er war nicht da, als ich ihn bei Abhramov abholen wollte.
Ich
habe gehofft, er hätte angerufen.«
»Was meinst du?« Seine Frau bekam Panik. »Er wartet doch
immer dort. Er weiß, dass er sich nicht rumtreiben soll.« »Er war
nicht im Unterricht. Fällt dir ein, wo er hingegangen
sein könnte? Irgendwas, wovon er gesprochen hat? Ein
Freund?« Wie oft hatte er den Jungen ermahnt, vorsichtig
zu
sein.
»Nein!«, antwortete Mira aufgeregt. »Vielleicht hat er den
Bus
genommen. Ein- oder zweimal habe ich ihm das erlaubt.« »Würde er
uns nicht Bescheid geben?«
Im Lauf der Jahre hatte Nordeschenko schon öfter dieses
dumpfe Gefühl gehabt, wenn ein Auftrag nicht klappte.
Auch
jetzt hatte er dieses Gefühl.
»Wir müssen die Polizei rufen«, verlangte Mira.
»Nein!« Die Polizei! Das war genau das, was er nicht tun
konnte – die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Jetzt, wo Reichardt
bei ihm zu Hause war. Was wäre, wenn man ihn
überprüfte? Er müsste erklären, wo im Ausland er gewesen
war.
Und wer sein Besucher war.
Nein, er musste nachdenken. »Du könntest Recht haben mit
dem Bus. Ich werde die Strecke abfahren. Ich rufe dich
von
unterwegs noch mal an.«
Nordeschenko schaltete das Telefon aus und fuhr durch die
Altstadt, um seinen Sohn in der Menge zu suchen. Das ist
die
Rache, dachte er. Für das, was ich getan habe.
Auf der Hassan Shukri in der Nähe des Memorial Parks überholte er
einen Bus und zwang ihn zum Anhalten. »Ich suche
nach meinem Sohn«, rief er dem Fahrer zu und pochte an
die
Tür. »Lassen Sie mich rein!«
Die Leute würden in Panik geraten, das wusste er. Man
würde
ihn für einen Terroristen halten. »Schauen Sie, ich bin
nicht
bewaffnet.« Er streckte seine Arme aus. Endlich öffnete
der
Fahrer die Tür.
»Pavel!« Nordeschenko sprang in den Bus und suchte die
Sitzreihen ab.
Pavel war nicht da!
»Entschuldigen Sie, wir müssen weiterfahren«, drängte der
Fahrer. Nordeschenko stieg wieder aus.
Mira hatte Recht. Sie sollten die Polizei anrufen. Es gab
keinen anderen Ausweg. Schon eine Minute zu zögern könnte
die Gefahr für seinen Sohn erhöhen. Reichardt würde
abreisen
müssen – sofort. Aber mit Sicherheit würde Mira ihn
erwähnen.
Die Polizei würde ihn überprüfen. Das war sehr schlecht! Minuten
später bog Nordeschenko in die Einfahrt seines
Hauses. Er knallte die Autotür zu und rannte hinein. »Was
gehört?«
»Nein.« Mira schüttelte panisch den Kopf.
»Wir stecken in Schwierigkeiten«, sagte Nordeschenko, dem
bewusst wurde, dass er keine andere Wahl hatte.
Reichardt kam herein. »Was ist denn los?«
»Du musst verschwinden. Sofort. Pavel wird vermisst, und
wir
müssen die Polizei rufen.«
Reichardt riss die Augen weit auf. Nordeschenko wusste,
was
der Südafrikaner dachte. Das Gespräch würde auf ihren Besucher
kommen, Nordeschenko würde dessen Anwesenheit und
vor allem dessen plötzlichen Aufbruch erklären müssen. Sie bekamen
eine Gnadenfrist, als das Telefon klingelte. Mira legte die Hand
über den Mund. »Vielleicht ist er es.« Nordeschenko rannte zum
Telefon. Er wollte Reichardt nicht
aus den Augen lassen. Er schluckte, als er den Hörer in die
Hand
nahm.
»Pavel?«
»Sie haben einen netten Jungen«, erwiderte eine Stimme am
anderen Ende. »Ich werde Ihnen Anweisungen geben, und ob
Sie Ihren Sohn je wiedersehen werden, hängt davon ab, wie
Sie
diese Anweisungen befolgen.«
»Was?«, brummte Nordeschenko. Also war es doch eine Art
Entführung. Der andere sprach Englisch. Perfektes Englisch. »Ich
habe Ihren Sohn«, fuhr der Anrufer fort. »Die gute Nachricht
lautet: Sie können ihn in wenigen Minuten gesund und
munter wiederhaben. Die schlechte Nachricht lautet: Wenn
Sie
nicht genau das tun, worum ich Sie bitte, werden Sie ihn
nie
wiedersehen.«
»Wer ist da?«, wollte Nordeschenko wissen.
»Das spielt keine Rolle. Ich würde mich jetzt darauf konzentrieren,
für welches Szenario Sie sich entscheiden.«
Nordeschenko nickte Mira aufmunternd zu. »Machen wir mit
den guten Nachrichten weiter. Um Pavel zurückzubekommen.« »Das ist
schlau. Aber immer der Reihe nach. Ich glaube, es
liegt weder in Ihrem noch in meinem Interesse, die
Polizei
einzuschalten. Sind wir uns in diesem Punkt einig?«
»Wir sind uns in keinem Punkt einig, außer dass Sie mir
meinen Sohn zurückgeben. Ich will mit ihm sprechen.« »Tut mir leid,
das wird nicht passieren. Nur so viel: Er trägt
Jeans, einen roten Pullover und Nike-Schuhe. Er hat ein
paar
Schachbücher dabei, und in seinem Geldbeutel steckt ein Foto von
seiner Familie. Was den Rest angeht, müssen Sie mir
vertrauen.«
»Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie es zu tun haben«,
drohte Nordeschenko.
»Oh, doch, das weiß ich. Mit Kolya Remlikov.«
Wäre jemand ins Haus gestürzt und hätte Nordeschenko mit einem
Gewehr gegen die Wand gepustet, wäre er nicht weniger erstaunt
gewesen. Seit zehn Jahren hatte diesen Namen niemand
mehr verwendet.
Er hatte es mit einem richtig ernsten Gegner zu tun. »Wenn Sie ihm
was angetan haben, werden Sie für diesen
Fehler den Rest Ihres Lebens bezahlen«, drohte Nordeschenko. »Ihm
was angetan?«, fragte der Amerikaner zurück. »Ich
glaube, das ist eher Ihr Stil, Remlikov. Sie meinen, etwas in
der
Art, was Sie im Fahrstuhl vom Gericht in New York getan
haben? Was Sie diesen beiden Marshals angetan haben?« Auch der
letzte Rest an Farbe wich aus Nordeschenkos Gesicht.
Wer konnte das sein? Wer hatte ihn aufgespürt? Selbst Cavellos
Leute wussten nicht, wer er war. Das war schlimmer als
eine
Lösegeldforderung. Sein ganzes Leben wurde
auseinandergenommen.
Nordeschenkos Mund wurde trocken wie Schmirgelpapier.
»Wie viel wollen Sie?«, murmelte er.
»Wie viel wir wollen? Keinen Cent. Sie können Ihren Sohn
zurückhaben und in Ihrem kaputten, verlogenen Leben so
weitermachen wie bisher. Ich brauche lediglich eine
kleine
Information von Ihnen.«
»Information.« Nordeschenko befeuchtete seine Lippen.
»Und
das wäre?«
»Cavello«, antwortete der Anrufer.
Nordeschenko hatte das Gefühl, sein Herz würde stehen
bleiben. Er hatte noch nie einen Kunden verraten. Er hatte
noch
nie mit jemandem verhandelt und diese Möglichkeit noch nie in
Erwägung gezogen. Die Liste der Leute, mit denen er zusam
menarbeitete, war heilig.
»Ich gebe Ihnen eine Stunde«, fuhr der Amerikaner fort.
»Danach werden Sie Ihren Jungen nie wiedersehen. Ihre
Identität und das Interpol-Dossier werden der
israelischen
Polizei ausgehändigt.«
»Und was ist, wenn ich Ihnen nicht helfen kann?«, fragte
Nordeschenko. »Was ist, wenn ich es nicht weiß?«
»Dann würde ich anfangen, meine Sachen zu packen.« Was konnte er
tun? Sie wussten alles von ihm: seinen Namen,
wie sie ihn erreichen konnten und dass er Cavello bei der
Flucht
geholfen hatte. Und sie hatten das, was ihm selbst das Wichtigste
in seinem Leben war. »Okay«, stimmte er zu.
»Geben Sie mir Ihre Mobilnummer – ich werde Sie in einer
Stunde anrufen. Fahren Sie den Berg runter und warten Sie
auf
meinen Anruf. Das Treffen wird kurzfristig sein. Und,
Kolya,
ich glaube, wir wissen beide, welche Tragödie es wäre, wenn
die
Polizei eingeschaltet wird.«
»Sie haben ganz schön Mut«, meinte Nordeschenko. »Wer
auch immer Sie sind.« Doch er gab dem Mann seine Nummer. »Das haben
Sie schön gesagt, Kolya, nach dem, was ich von
Ihnen gesehen habe.«
Die Verbindung wurde abgebrochen. Nordeschenko nickte
Mira zu, um sie zu beruhigen, dann gab er Reichardt ein
Zeichen.
»Komm, Reichardt. Es gibt Arbeit.«
Wir fuhren mit dem Wagen zu einem verlassenen Tabaklagerhaus, das
ich im schäbigen Hadar-Viertel der Stadt entdeckt hatte. Und
warteten. Der Junge schlief friedlich, und jedes Mal,
wenn er sich rührte, ließ ich ihn am Äther schnuppern. Im Lauf
meiner beruflichen Laufbahn hatte ich ein paar Dinge
getan, auf die ich nicht stolz war, aber nichts, was dem
hier
gleichkam. Der Junge war unschuldig, egal, was sein Vater
angestellt hatte. Wir beobachteten ihn, wie er auf dem
Rücksitz
schlief. Andie saß neben ihm, seinen Kopf auf ihrem Schoß,
und
beruhigte ihn. Ein- oder zweimal strich sie über sein
hellbraunes
Haar.
Wir beide wollten den Austausch so schnell wie möglich
hinter uns bringen.
»Wo werden wir ihn treffen?«, fragte Andie.
»Du meinst, wo ich ihn treffen werde? In den
Bahai-Gärten.
Sechs Uhr. Eine Stunde später findet dort ein
Freiluftkonzert
statt. Es wird gestopft voll sein.«
Andie nickte.
»Ich muss seinen Mund verkleben und seine Hände fesseln,
Andie. Das muss sein. Er wird aufwachen. Ich will, dass er
bei
dir im Auto bleibt. Du kannst ihm sagen, dass er seinen Vater
in
ein paar Minuten wiedersehen wird. Wenn es so weit ist,
rufe
ich dich an. Du fährst los, und auf mein Zeichen lässt du
ihn
frei. Und dann verschwindest du so schnell wie möglich.
Hast
du das verstanden? Ich will nicht, dass du noch irgendwo in
der
Gegend bist, wenn die Sache erledigt ist.«
»Wohin?«
»Zurück ins Hotel.« Wir hatten am Morgen unsere
Unterkunft
gewechselt, waren von dem schicken Hotel in eine kleinere Pension
in der Altstadt gezogen, wo wir unsere Ausweise nicht
abzugeben brauchten. »Wir fliegen heute Abend von Tel Aviv.« »Mit
welchem Ziel?«
»Paris. Spätabends. Ich gehe davon aus, dass alles glattläuft.«
»Und anschließend?«
Ich öffnete die Wagentür. »Dieser Programmpunkt steht
noch
nicht fest.«
Der Junge bewegte sich. Die Wirkung des Betäubungsmittels
ließ nach. Bald würde ich ihn aufwachen lassen. Ungefähr
zum
fünfzigsten Mal blickte ich auf meine Uhr. Die Stunde war
vergangen. »Es ist Zeit.«
Andie lächelte tapfer.
Ich stieg aus und rief Remlikov auf seinem Handy an, um
ihm
unseren Treffpunkt mitzuteilen, wollte aber nicht, dass
Andie
zuhörte.
Als das erledigt war, setzte ich mich wieder ins Auto. »Erledigt.«
Ich lehnte mich mit angewidertem Gesichtsausdruck
zurück, als hätte ich Gammelfleisch gegessen.
»Du weißt, dass ich das hier in Ordnung finde, Nick.
Wirklich.
Es gibt nur eine Sache, die mir nicht richtig erscheint.« »Ja,
was?«
»Remlikov. Und der Blonde. Sie sind diejenigen, die
Jarrod
getötet haben. Kommen sie ungeschoren davon?«
»Das wussten wir, als wir hergekommen sind, Andie. Wir
sind
wegen Cavello hier. Er ist derjenige, der den Auftrag
gegeben
hat.«
Plötzlich hörte ich, wie sich der Junge bewegte. »Vater?« Ich stieg
aus und öffnete die hintere Tür. »Hier.« Ich warf
Andie eine Baseballkappe zu. »Die lässt du die ganze Zeit
über
auf. Und die Sonnenbrille. Dann sieht der Junge nicht
dein
Gesicht. Jetzt wird’s heikel, Andie. Ich möchte, dass du
von
jetzt ab ganz vorsichtig bist.«
»Ja, danke.« Andie nickte leicht.
Ich nahm das Seil und das Klebeband. Sie streichelte den
Jungen, als wäre er ihr Sohn. »Es wird alles wieder gut.« »Eine
Sache noch.« Unsere Blicke begegneten sich, als ich ihr
so nahe kam, dass wir uns beinahe umarmen konnten. »Nach
dem Austausch wartest du eine Stunde, länger nicht. Wenn
ich
nicht in die Pension zurückkomme, fährst du nach Tel Aviv
und
nimmst den Flug.«
»Wenn was schiefläuft?«
»Das wirst du nicht erfahren. Du fliegst einfach ab, okay?« Sie
schüttelte den Kopf. »Ich verlasse dich nicht.«
»Glaub mir, wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin,
musst
du dir darüber keine Sorgen mehr machen.«
Ich weiß nicht, wessen Idee es ursprünglich war, diese riesigen,
sich über mehrere Terrassen erstreckenden, steilen Gärten am Berg
Karmel anzulegen, die dem Bahai-Glauben geweiht sind. Aber wer es
auch gewesen sein mochte, hatte gewusst, was es
hieß, wenn man Bedarf an einem geheimen Treffpunkt hatte. Die
Gärten waren so gut besucht, dass man untertauchen
konnte, ihre offene und weitläufige Anordnung der
Terrassen
verhinderte jedoch, dass sich unerwünschte Komplizen unbemerkt
nähern konnten. Es gab mehrere Ausgänge, die auf dicht
befahrene Hauptstraßen mündeten. Die Polizei
patrouillierte
regelmäßig, und an diesem späten Donnerstagnachmittag
waren
die Gärten so voll wie eine Wiese bei einem Freiluftkonzert. Wenn
die Sache klappt, versuchte ich meine Nerven zu beruhigen, könnte
ich mir ja überlegen zu konvertieren.
Ein paar Minuten zu früh, um Viertel vor sechs, stellte
ich
mich auf der untersten Terrasse an die Statue, die einen gewissen
Sayyid Ali Muhammad, auch Bab genannt, darstellte, wo
ich mich mit Remlikov verabredet hatte. Ich hatte ihm nur
dreißig Minuten Zeit gegeben, was nicht viel war, um sich
vorzubereiten. Die Gärten bestanden aus achtzehn Terrassen.
Er
wusste nicht, ob ich weiter oben oder unten war. Da die
Ben
Gurion Street nur wenige Meter entfernt lag, würde es für
Andie
einfach sein, den Jungen aussteigen zu lassen und
weiterzufahren.
Wie ich mich verdrücken konnte, stand auf einem anderen
Blatt.
Ich hatte schon ein paarmal geheime Treffen vereinbart,
aber
immer im Vertrauen, dass mir jemand mit einem Abhörgerät
und einem Heckenschützengewehr den Rücken deckte. Nie
nackt auf ungeschütztem Terrain – und ohne mich mit dem kleinen
Problem abplagen zu müssen, dass ich den Sohn eines
kaltblütigen Mörders entführt hatte.
Menschen strömten herbei. Ein israelischer Folksänger
trat
zwei Terrassen über mir auf. Der Ort konnte nicht besser
gewählt sein, sagte ich mir. Genau wie im Madison Square
Garden. Sobald der Austausch stattgefunden hatte, brauchte
ich
nur in der Menge unterzutauchen und zu verschwinden. Um fünf vor
sechs nahm ich mein Handy heraus und rief
Remlikov ein letztes Mal an. »Sind Sie da?«
»Ich bin da. Was ist mit meinem Sohn?«
»Gehen Sie zur Statue des Ali Muhammad in der Nähe vom
Ausgang zur Ben Gurion Street. Kennen Sie die?«
»Kenne ich. Wie werde ich Sie erkennen?«
»Ich bin derjenige, der einen zwölfjährigen Jungen mit Klebeband
über dem Mund hält. Keine Sorge. Ich werde Sie
erkennen.«
Remlikov zog wenig begeistert die Nase hoch. »Ich brauche
ein paar Minuten. Ich bin auf einer der oberen Terrassen.« »Ihr
Problem. In fünf Minuten bin ich weg.« Ich drückte die
Austaste. Er würde kommen. Ich wollte ihm keine
Gelegenheit
lassen, sich vorzubereiten.
Ich muss zugeben, dass ich in den nächsten Minuten so angespannt
und aufgeregt war wie noch nie in meinem Leben. Ich versuchte, mich
auf die Menschen zu konzentrieren, die auf dem Weg zu den oberen
Terrassen waren. Hin und wieder schlender
te ein Polizist mit der allgegenwärtigen Uzi vorbei.
Ein letztes Mal kontrollierte ich meine Glock und rückte
meine Sonnenbrille zurecht. Versuchte, den Aufruhr in
meinem
Bauch zu dämpfen.
Eine Minute vor sechs. Komm schon, Remlikov. Jetzt oder
nie!
Dann erblickte ich ihn in der Menge. Er trug ein offenes,
gemustertes Hemd und eine schwarze Lederjacke. Ein paar
Leute gingen zwischen uns vorbei, doch er hatte mich fest
ins
Visier genommen. Musste an dem Schachbuch liegen, das ich
auffällig in der Hand hielt. Er kam direkt auf mich zu,
nahm
seine Sonnenbrille ab und blickte mir lange in die Augen.
Ich
hatte schon oft Berufskillern ins Gesicht gesehen. Ihr Blick
war
immer etwas stumpf, auch wenn sie lächelten. Remlikovs
Augen
waren mustergültig.
»Stellen Sie sich vor mich«, verlangte ich und drehte
mich
selbst mit dem Rücken zur Statue.
Ich wollte nicht von einem plötzlichen Hinterhalt
überrascht
werden.
Er blickte auf das Schachbuch. »Ich glaube, das gehört mir.« Ich
reichte es ihm.
»Und jetzt mein Sohn«, sagte er, als ginge es um eine Ware.
»Cavello«, erwiderte ich.
»Sie haben einen langen Weg auf sich genommen allein in
der
Annahme, dass ich seinen Aufenthaltsort kenne.« Er lächelte. »Sie
verschwenden kostbare Zeit. Ich verschwinde in zwei
Minuten.«
»Zwei Minuten.« Er schürzte seine dünnen Lippen. »Das
Risiko werde ich eingehen müssen. Keiner von uns will mit
leeren Händen nach Hause gehen. Sie haben mich heute
überrascht. Überraschung ist etwas, das ich schon lange
aus
meinem Leben verbannt habe. Ich wäre Ihnen sehr
verbunden,
wenn Sie mir sagen würden, wie Sie mich gefunden haben.« »Die Sache
in New York oder Ihren echten Namen?« »Die Reihenfolge ist egal.«
Er zuckte höflich mit den Schultern.
Ich blickte nach unten. Als ich den Kopf wieder hob,
lächelte
ich. »Ihre Schuhe.« Er trug sie immer noch. »Technisch
nicht
sehr anspruchsvoll, muss ich leider sagen. Aber ich habe
gehört,
in diesem Teil der Welt sind sie der Renner.«
»Meine Schuhe«, schnaubte Remlikov überrascht, dann verdrehte er
die Augen und verlagerte sein Gewicht auf das kaputte
linke Bein. »Meine Füße bringen mich noch um.« Er
schüttelte
den Kopf. »Selbst jetzt noch.«
»Sie sollten die Marke wechseln, wenn Sie vorhaben, im
Geschäft zu bleiben.«
»Ich bin ausgestiegen«, erwiderte er.
»Sehr schlau. Sie machen einen auf Familie. So, was haben
Sie jetzt für mich?«
»Sie haben nicht fertig erzählt. Allerdings habe ich den Eindruck,
dass ich schon einiges verstehe. Wenn Sie in der Lage
waren, meine Schuhe zu erkennen, müssen Sie so was wie
die
Aufnahmen einer Sicherheitskamera gesehen haben. Um sie
mit
mir und meiner Vergangenheit in Verbindung zu bringen und
mich hier ausfindig zu machen, brauchten Sie eine Menge
Hilfe.
Ressourcen. Ressourcen der Regierung, da bin ich mir
ziemlich
sicher. Heimatschutz? FBI?«
»Das sind eine Menge Vermutungen für einen Menschen, der
nur noch eine Minute Zeit hat«, gab ich mit einem Nicken
zu
bedenken.
»Aber nicht so hoch angesiedelt.« Remlikov lächelte. »Sie
sind derjenige, der während der Flucht im Gericht auf uns
geschossen hat.«
Ich nahm meine Brille ab, so dass wir uns direkt in die
Augen
schauen konnten. »Sie haben für diese Schweine auch eine
Menge Geld bezahlt.«
»Aber wichtiger ist, warum ein amerikanischer Ermittler
meinen Sohn entführen muss, statt mit einem Haftbefehl
meine
Tür einzubrechen, wenn er doch weiß, wo ich stecke. Und
aus
rein egoistischen Gründen würde ich gerne wissen, wie
viele
andere Leute noch über dieses Wissen verfügen.«
»Alles gute Fragen.« Ich beschloss, ihm noch ein paar Sekunden
Aufschub zu gewähren. »Und zu welchem Schluss sind Sie
gekommen?«
»Dass Sie ein verzweifelter Mensch sein müssen. Oder zu
der
aussterbenden Spezies gehören, die ihre Arbeit mit
äußerster
Leidenschaft betreibt.«
»Genug geplaudert. Jetzt müssen Sie mich überzeugen,
warum
ich Ihnen Ihren Sohn zurückgeben und Sie nicht auf der
Stelle
für das erschießen soll, was Sie in New York getan haben.« Remlikov
lächelte nachdenklich. »Weil ich etwas sehr Kostbares für Sie habe.
Etwas, das uns beide umbringen könnte – und
eines Tages wahrscheinlich auch tun wird.«
»Und was ist, wenn das nicht reicht?« Dieser Mann hatte
so
viele schreckliche Dinge getan. Er verdiente es, zu sterben
oder
zumindest den Rest seines Lebens im Gefängnis zu
verrotten.
Ich spürte den Drang, meine Waffe zu ziehen und ihn umzulegen –
nachdem er mir gegeben hatte, was ich brauchte. Wahrscheinlich
dachte er dasselbe.
»Dann, weil Sie anders sind als ich.« Remlikov zuckte mit
den
Schultern. »Wie wäre diese Antwort?«
Ich wollte die Sache hinter mich bringen. Andie starb
sicher
vor Angst und fragte sich, warum es so lange dauerte. »Die
Uhr
läuft«, erinnerte ich ihn.
»Wonach Sie suchen, sitzt in Südamerika«, begann er. »Argentinien,
glaube ich. Oder Chile. Ganz unten in der Nähe der
Spitze. Cavello hat dort eine Ranch. Schafe, vermutlich.« »Weiter«,
drängte ich. Ich wusste, dass dies noch nicht alles
war.
»Woher weiß ich, dass Sie mich nicht den Behörden
verraten,
sobald Sie Cavello haben?«
»Woher weiß ich, dass Sie ihn nicht warnen, sobald Sie
Ihren
Jungen haben?«
Wir blickten einander in die Augen. Remlikov lächelte.
»Mein
Sohn ist Schachspieler. Er hat ein natürliches Talent
dafür,
Pattsituationen zu vermeiden. Aber das wissen Sie
natürlich
bereits.«
»Ich spiele kein Schach.« Ich zuckte mit den Schultern. »Aber ich
glaube, da wir beide etwas über den anderen wissen,
das am besten unter uns bleiben sollte, wäre es wohl gut,
wenn
wir uns nie wieder begegnen würden.«
»Das habe ich mir auch gerade gedacht.« Remlikov nickte.
»Ich glaube, diese Ranch liegt in der Nähe einer Stadt, die
sich
Ushuaia nennt. Ziemlich weit unten an der Spitze. Das
Wetter
ist nicht so gut, wurde mir gesagt, aber die Abgeschiedenheit
ist
ihr Geld wert. Schon der Name ist vielsagend.«
Er nannte mir den Namen von Cavellos Ranch. Ich musste
lächeln – und wusste, dass seine Information stimmte. »Jetzt haben
Sie, glaube ich, etwas für mich.« Nachdem die
Geschäfte beendet waren, setzte Remlikov seine
Sonnenbrille
wieder auf.
Ich nahm mein Telefon heraus und drückte die grüne Taste.
Andie reagierte sofort. »Du kannst ihn jetzt bringen.« Ich
versuchte, meinen Blick nicht von Remlikov abzuwenden,
um niemandem, weder ihm noch einem möglichen Komplizen,
einen Hinweis zu geben. Meine Hände waren feucht, und
Schweiß lief hinten an meinem Hemd hinab. Wir konnten nur
warten und einander anstarren.
»Also, wer war es, wenn ich fragen darf?«
»Wer war wer?« Ich zuckte mit den Schultern. Ich dachte,
er
meinte Andie.
»Wer war im Bus? Der Grund, warum Sie Cavello unbedingt
haben wollen.«
»Seien Sie froh, wenn ich Sie nicht gleich hier für das
töte,
was Sie getan haben.«
»Interessant«, schnaubte er. »Ich dachte das Gleiche über Sie.« Er
rieb die Fingerspitzen aneinander. Ich wusste, dieser Mörder würde
mich nicht einfach ziehen lassen. Ich blickte mich
um, suchte nach einer Deckung. Eine Gruppe junger Leute
ging
an uns vorbei, zwei Polizisten schlängelten sich durch
die
Menge auf uns zu. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich
unseren weißen Ford auf der Ben Gurion Street. Andie hielt
an
der vereinbarten Stelle und wartete auf mein Signal. Ich
warf
einen weiteren Blick auf die beiden Polizisten, meine
Rückversicherung.
»Mein Sohn?«, drängte Remlikov. »Die Zeit ist doch um,
oder?«
»Aber Sie müssen wissen, Remlikov, wenn Cavello nicht da ist, wo
Sie sagen, werden alle Ermittlungsbehörden auf der Welt Ihren Namen
und Ihre Fingerabdrücke bekommen. Dann wird es
schwierig, einen auf Familie zu machen.«
»Und Sie müssen wissen, wenn mein Sohn auch nur einen
Kratzer abbekommen hat, werde ich mich durch die Personalakten des
FBI wühlen, bis ich Sie gefunden habe.«
Ich hob meinen linken Arm. Das Signal.
Die hintere Tür des Wagens wurde geöffnet, und der Junge
stieg aus. Ich war mir sicher, dass Andie in unsere
Richtung
deutete. Er schirmte seine Augen vor der untergehenden
Sonne
ab.
Remlikov winkte ihm zu. »Pavel, hier!«
Der Junge rannte auf ihn zu. Als Remlikov mich ansah,
fuhr
Andie wieder los und verschwand im Verkehr.
»Ich meine, was ich sage, Remlikov. Ich wünschte, ich
könnte
Sie erschießen«, sagte ich.
Dann huschte ich um die Statue herum – vor den Augen der
ahnungslosen Polizisten. Ohne die Aufmerksamkeit auf mich
zu
lenken, rannte ich los.
Ich mischte mich unter die Menschen, die auf dem Weg zu
den
oberen Terrassen waren. Offenbar wurde ich nicht verfolgt. Ich
verließ den Weg und rannte einen schmalen Hügel hinauf,
wo mir die Bäume und Sträucher als Deckung dienten.
Weiter
unten entdeckte ich einen anderen Ausgang. Zur Allenby Street.
Diesen wollte ich nehmen. In ein Taxi steigen. Kurz
darauf
würde ich Andie in der Pension treffen. Wir hatten, was
wir
brauchten. In einer Stunde wären wir fort.
Ich blickte mich erst um, als ich die Kuppe erreicht
hatte.
Kniend nahm Remlikov seinen Sohn, der auf ihn zurannte, in seine
ausgestreckten Arme und bedeckte sein Gesicht mit
Küssen.
Dann blickte er den Hügel hinauf in meine Richtung. Ich
wusste nicht, ob er mich sehen konnte. Aber es fühlte sich so
an,
obwohl Bäume die Sicht behinderten.
Endlich beruhigte sich mein Herz wieder. Ich hatte, was
ich
brauchte: Ich wusste, wo Cavello war, und Andie war
sicher
entkommen.
Ich hätte schreien können vor Freude. Wir hatten es
geschafft!
Diesmal würden wir gewinnen.
Doch in dem Moment wurde mein Kopf ruckartig nach hinten
gezerrt, und ein Messer drückte sich tief zwischen meine
Rippen.
»Tut mir leid, Kumpel, so läuft das nicht.«
Ich erstarrte.
»Ich werde dich das nur einmal fragen«, drohte die Stimme
mit schwerem südafrikanischem Akzent, »und wenn du die
Hoffnung hast, länger als die nächsten paar Sekunden zu
leben,
wirst du mir antworten. Wer hat das Kind abgesetzt?« Er drückte die
Klinge noch tiefer. Mir blieb die Luft weg. Als
ich es schaffte, einen Blick auf sein Gesicht zu
erhaschen,
wusste ich, dass ich mächtig in Schwierigkeiten steckte. Die Haare,
die dem Typen übers Gesicht fielen, waren blond. Ich war dreizehn
Jahre lang beim FBI gewesen, hatte aber nur ein paarmal einen
Nahkampf ausgetragen, und auch dann nur mit kleinen Fischen, nicht
mit einem professionell ausgebildeten Mörder, der zweimal so groß
wie ich war und mich, während er mir ein Messer zwischen die Rippen
drückte, im Würgegriff
hielt.
Ich war ihm hilflos ausgeliefert und konnte nicht einmal
schreien. Was sollte ich tun? Ich konnte kaum denken. Der
Kerl
presste die Klinge so fest gegen meinen Brustkasten, dass
ich
nicht wusste, ob sie bereits ins Fleisch eingedrungen war. »Ich
kann dir dein Genick brechen, Freundchen, und du wirst
auf Wolke sieben davonschweben, was ich empfehlen würde.
Oder ich kann mit dir ein bisschen spielen.«
Oh, Gott!
»Tu dir also einen Gefallen, Kumpel. Wer war die Frau in
dem
Wagen?«
Mir fiel eine Sache aus einem Kurs in Selbstverteidigung
ein,
den ich vor Jahren beim FBI gemacht hatte. Dem
natürlichen
Drang entspräche es, zu kämpfen, sich freimachen zu
wollen,
doch jemand, der darin geübt war, einem die Luftröhre zu
zerquetschen, würde nur noch fester zudrücken.
Geh mit ihm, hatte es geheißen. Nutze seinen Schwung aus.
Also, was soll’s, dachte ich. Ich wollte Andie nicht im
Stich
lassen.
Also lehnte ich mich mit meinem ganzen Gewicht gegen
Blondie, warf ihn vielleicht einen Schritt nach hinten.
Ohne
mich loszulassen, stolperte er rückwärts.
Aber meine Hand war frei, so dass ich in meine
Jackentasche
greifen konnte. Als ich den Griff meiner Glock umfasste, wusste ich
nicht, ob sie auf ihn oder mich zielte. Wenn ich nicht
rasch
schießen würde, wäre es ohnehin egal.
Der Blonde seufzte. »Deine Entscheidung, Arschloch.« Ich drückte
den Abzug. Einmal, zweimal! Der Rückstoß
schleuderte uns beide nach hinten, aber die Nähe zum Ziel
dämpfte den Lärm. Ich wusste nicht, ob ich getroffen
hatte.
Mich oder ihn. Aber ich spürte das Messer nicht mehr.
Auch
keine Schmerzen im Bauch. Ich drückte noch zweimal ab. »Scheiße!«
Der Blonde schrie und stolperte rückwärts. Ich sprang zur Seite,
während er wild mit dem Messer herumfuchtelte. Als ich mich auf den
Boden fallen ließ, sah ich, dass
er am Oberschenkel verletzt war und Blut durch seine
Jeans
sickerte.
»Du bist tot, Mann!« Er blickte nach unten und funkelte
mich
mit animalischer Wut an.
Ich richtete die Waffe auf ihn, war aber unsicher, was ich
tun
sollte. Ich hatte nichts mehr, womit ich den Schall
dämpfen
konnte. Ein paar Leute kamen auf uns zu. Ich war
FBI-Agent,
kein kaltblütiger Mörder. Aber selbst als Agent wäre ich
erledigt. Für den Rest meines Lebens würde ich erklären
müssen, was ich hier eigentlich trieb – von einer
israelischen
Gefängniszelle aus!
»Dreh dich um«, rief ich. »Mach deine Jacke auf.«
Der Blonde schielte zu den Leuten, die auf uns zukamen.
Langsam öffnete er seine Jacke. »Was hast du vor, Kumpel?
Mich erschießen?«
Er musste bewaffnet sein, aber ich sah keine Pistole. Schlimmer
war, dass diese Leute immer näher kamen und ich eine
Waffe in der Hand hielt. Er wusste nicht, wer ich war. Er
wusste
nicht, wo Andie und ich wohnten. Aber er wusste, dass ich
ihn
jetzt, während diese Menschen den Hügel heraufkamen,
nicht
erschießen würde.
»Beweg dich.« Ich richtete die Waffe auf ihn. »Den Hügel
runter. Los!«
Blondie gehorchte, aber nur langsam und wütend. Er warf einen Blick
auf die sich nähernde Gruppe. Blut sickerte aus der Wunde an seinem
Oberschenkel. Da ich ihn nicht getötet hatte, sah er wieder eine
Chance für sich gekommen. Dieses Arsch
loch hatte mich perfekt eingeschätzt.
»Sag Remlikov, ich werfe alle Abmachungen über den Haufen, wenn ich
nicht das finde, was ich suche.« Langsam ging ich
rückwärts.
Vielleicht hundert Meter weiter unten befand sich ein
Ausgang
zur Ben Gurion Street. Dort strömten die Menschen ein und
aus.
Ich dachte mir, dass er, wenn ich dort untertauchte,
nicht
schießen würde, und wahrscheinlich konnte ich schneller
rennen
als er.
Ich preschte los. jagte zwischen Hecken und Bäumen als
Deckung hindurch. Als ich mich umdrehte, humpelte er zur
Kuppe hinauf, zog eine Waffe hinten aus seiner Jeans und
ging
in die Hocke.
Ich hörte keinen Knall, aber die Kugel pfiff an meinem
Ohr
vorbei und landete im Stamm eines nahe stehenden Baumes. Er rannte
mir hinterher. Das war der Wahnsinn. Im Bein dieses
Kerls steckte eine Kugel Kaliber.40, aber er ließ sich
davon
nicht aufhalten.
Ich rannte nach unten zum Ausgang auf die viel befahrene
Ben
Gurion Street, wo ich ihn vielleicht abhängen konnte. Ich
brauchte nur ein Taxi zu finden und zurück zum Hotel zu
fahren. Mehr nicht!
Ein Junge und seine Freundin bogen gerade in den Park ein.
Er
trug Sandalen und ein Linkin-Park-T-Shirt, um seine
Schulter
hing eine Gitarre. Ich hörte, wie etwas an mir
vorbeizischte.
Direkt vor mir platzte die Schulter des Jungen auf, er wirbelte
herum und schlug auf den Boden auf. Seine Freundin hob
die
Hände vors Gesicht und schrie.
»Alles runter! Alles runter!«, riefen die Leute.
Ich konnte es nicht glauben.
Eine unschuldige Person war verletzt. Die Sache war
völlig
außer Kontrolle geraten. Ich wusste, ich hätte die Sache
dort
oben beenden können. Ihn festhalten und die Polizei rufen
können. Irgendwas Logisches und Normales tun. Um mich
herum herrschte Chaos. Ich drehte mich zu dem blonden
Killer.
Er war weg! Polizisten kamen von der Ben Gurion Street
auf
uns zugerannt. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Meiner
Einschätzung nach würde der Junge wieder gesund werden. Ich rannte
auf den Platz zu.
In der Menge Deckung suchend, wollte ich so viel Abstand
wie möglich zwischen mich und meinen Angreifer bringen.
Ich
betete, dass die Polizei ihn sich schnappen würde. Doch plötzlich
bemerkte ich sein blondes Haar und seine stechenden
Augen – er folgte mir entlang der Mauer.
Ziellos eilte ich durch die Menge, suchte hektisch nach
einem
Taxi. Ich konnte mich noch aus der Affäre ziehen, brauchte
nur
unsere Pension zu erreichen. Wo diese lag, wussten die
beiden
nicht.
Ich rannte eine enge Straße mit Händlern hinab, fort vom
Park.
Hunderte kleiner Buden – Lederjacken, bestickte Hemden,
Körbe, Gewürze –, umgeben von Einheimischen und Touristen. Im
Zickzack rannte ich von einer Straßenseite zur anderen.
als
ich mich umblickte, ob er noch hinter mir war. Ja, da war
er
noch! Er stieß Gestelle um, schob Menschen zur Seite, holte
auf.
Vom Park her ertönten Sirenen.
Dieser Wahnsinnige ließ sich einfach nicht aufhalten. Ich
befand mich auf einer Straße ohne Taxis. Du weißt nicht,
wohin
du willst, Nick! Irgendwann würde ich stehen bleiben und
mich
ihm stellen müssen. Ich hätte ihn erschießen sollen, als ich
die
Gelegenheit dazu hatte.
Zwei weitere Kugeln zischten an meinem Kopf vorbei,
warfen
vor mir eine Bude mit bunten Stoffen um.
Ich duckte mich, rannte weiter. Das Ende der Straße war
in
Sicht. Das Problem war: Ich erreichte es schneller, als ich
mir
einen Plan ausdenken konnte. Die Straße mündete auf einen
erhöhten Wendeplatz, vielleicht zwanzig Meter oberhalb
einer
belebten Straße. Ich saß in der Falle, konnte der Realität
nicht
mehr entkommen – Nick, du musst gegen dieses Schwein
antreten!
An der Ecke drehte ich mich um, blieb stehen und
überlegte,
welche Möglichkeiten ich hatte: nach unten auf die
belebte
Straße springen oder mich ihm stellen. Ich griff nach
meiner
Waffe. Ich dachte an Andie, an das Bild, mit dem sie seit
einem
Jahr lebte – von dem Blonden, der vom Geschworenenbus
davonrannte.
Dies war der Mann, der ihren Sohn getötet hatte.
Ich trat am Ende der Straße hinter eine Bude. Dies hier
war
zwar nicht Cavello, aber es war der Mann, der die Geschworenen in
die Luft gejagt hatte. Ich hatte keinen richtigen Plan.
Ich
war jetzt weder Polizist noch auf der Flucht. Nur jemand
mit
einem besonders hohen Adrenalinspiegel. Jemand, der dabei
war, sich einer Situation zu stellen.
Schließlich stolperte der Blonde auf den Wendeplatz. »Waffe
runter«, verlangte ich und richtete meine auf ihn. »Waffe runter?«
Grinsend blieb er stehen und blickte mich an.
»Ich weiß nicht, wer du bist, aber jetzt bist du ein toter Mann.«
Als er begann, den Arm zu heben, drückte ich zweimal ab, und
zweimal traf ich ihn. Er hielt sich an einer Bude fest, die
zusammenbrach und ihn unter Stoffen begrub. Er versuchte
aufzustehen. Hektisch zerrte er an den Stoffen und hob die
Hand
mit der Waffe.
»Du hast den Bus in die Luft gejagt!«, schrie ich.
Der Blonde zögerte. Ich hatte ihn überrascht. Dann verzog
er
seine Lippen zu einem Grinsen, als amüsierte ihn die
Situation.
»Genau.« Er zwinkerte, während er versuchte, seine Hand
zu
befreien. »Bumm!«
Ich warf mich auf ihn, rammte ihm meine Faust ins
Gesicht.
Er stolperte rückwärts gegen das Geländer. Ich packte ihn
am
Kragen, schlug mit all meiner Kraft auf ihn ein. Zähne
knackten,
Blut lief aus seinem Mund – aber er hielt sich immer noch
auf
den Beinen.
»Ich habe eine Nachricht für dich.« Ich schleuderte ihn
gegen
das Geländer. »Jag dich selbst in die Luft.«
Der Blonde versuchte, auf mich zu zielen, doch er kippte
hintenüber und schoss ins Leere.
Unten landete er mit einem dumpfen Schlag auf einem parkenden
Wagen.
Ich trat ans Geländer. Passanten schrien, wichen vor dem
Wagen zurück. Ich war erschöpft, außer Atem, schnappte
nach
Luft. In dem Moment war es mir egal, ob man mich sah. Mir
war es egal, dass ich Sirenen hörte und mich die Polizei
finden
konnte.
Aber was ich dort unten sah, war unglaublich.
Der Wahnsinnige öffnete die Augen, blickte zu mir herauf.
Er
wollte einfach nicht sterben. Sein Haar und sein Hemd
waren
blutverklebt. Er rollte vom Wagen und stolperte mit weichen Knien
rückwärts auf die Straße. Seine Waffe hielt er immer
noch in der Hand, er hob den Arm.
In meine Richtung!
Wie angewurzelt blieb ich stehen und blickte zu ihm
hinab.
»Stirb, du Drecksau«, rief ich. »Stirb!«
Zwischen zwei Wagen ging er in die Hocke, hatte aber Mühe
zu atmen. Dann trat er rasch heraus und, sein Gesicht zu
einer
Grimasse verzogen, zielte auf mich.
Ich hörte ein Hupen. Und das Quietschen von Bremsen.
Durchdringend und markerschütternd laut.
Der Blonde drehte sich um, riss den Mund auf, ohne dass
ein
Schrei ertönte. Ungläubig blickte er seinem Schicksal entgegen. Der
Bus raste in ihn hinein, schleuderte ihn zwanzig Meter
die
Straße entlang. Seine Waffe flog durch die Luft und traf
mit
einem Knall auf den Asphalt, der wie ein Schuss klang. Ich hörte
Schreie, warf einen letzten Blick hinunter. Der Kerl
war nur ein blutiger Haufen.
Diesmal wartete ich nicht auf eine Zugabe. Als die Leute
nach
oben blickten, stand niemand mehr am Geländer.
Minuten später klopfte ich an unsere Zimmertür. »Andie,
lass
mich rein!«
Als sie die Tür öffnete, brach ich fast auf der Schwelle zusammen.
»Gott, Nick, ich wusste nicht, was ich tun sollte«,
sagte sie und warf ihre Arme um mich. Dann bemerkte sie
die
Blutflecken auf meinem Hemd und die blauschwarzen Male an
meinem Hals.
»Nick!«
»Es ist alles in Ordnung«, beruhigte ich sie. »Aber wir
müssen
sofort verschwinden!«
Ich zog mich rasch um. Wir schleppten unser Gepäck nach
unten und bezahlten. Wenige Minuten später saß Andie am
Steuer. Wir fuhren aus der Stadt hinaus und über die
Küstenschnellstraße nach Tel Aviv, wo wir für zehn Uhr abends
einen
Flug gebucht hatten. Ich schloss die Augen, lehnte mich
nach
hinten und stieß erschöpft die Luft aus.
»Du hättest nicht warten sollen.« Ich drehte mich zu ihr.
»Was?«
»Ich sagte, eine Stunde. Ich war eine halbe Stunde zu spät.
Ich
hatte gesagt, du sollst losfahren. Du hättest nicht warten sollen.«
Andie starrte mich an, als hätte sie nicht verstanden, doch
dann
fing sie an zu grinsen. »Im Fernsehen lief Braveheart …
irgendwie hatte ich die Zeit vergessen.«
Sie nahm eine Hand vom Lenkrad und klopfte mir auf den
Arm. »Ich hatte dir doch gesagt, dass ich nicht ohne dich
aufbreche, Nick.«
Als die Lichter von Haifa in der Dunkelheit verschwanden,
war ich so leer und erschöpft wie selten in meinem Leben. »Hat er
geredet?«, fragte sie schließlich.
Ich zögerte einen Moment, bevor ich lächelte. »Ja, hat er.« »Dann
fliegen wir nach Paris?«
»Zwischenstation.« Ich nickte.
»Und anschließend?«
»Liebst du mich immer noch?«, fragte ich.
»Du hast mir eine Heidenangst eingejagt. Nick. Ich weiß
nicht,
was ich fühle.«
»Du hättest in meinen Schuhen stecken sollen.« Kurze
Pause.
»Nein, lieber nicht.«
Ich verzog meine Lippen zu einem Grinsen. Zu einem
breiten,
triumphierenden. Ich konnte nicht glauben, dass wir es
geschafft
hatten.
Schließlich lächelte auch Andie. »Ja, ich liebe dich
immer
noch. Also, wohin?«
Am Ende der Welt, hatte Cavello mich
verspottet. Komm und
hol mich, Nicky Smiles.
Genau deswegen musste ich grinsen. Weil ich wusste, dass
Remlikov die Wahrheit gesagt hatte – nämlich wegen des
Namens von Cavellos Ranch: El Fin del
Mundo. Das Ende der
Welt.
»Patagonien«, antwortete ich.
»Patagonien?« Andie blickte mich an. »Ich glaube, ich
weiß
gar nicht, wo das ist.«
»Keine Sorge, aber ich.«